SCHLAFENDE ZÖLLNER

Mane Hellenthal & Ulrich Behr

Anlässlich des 55-jährigen Partnerschafts-Jubiläums von Grosbliederstroff und Kleinblittersdorf sind vom 12. Juli bis zum 12. Oktober 2023 in der Galerie des Historischen Rathauses Kleinblittersdorf Fotografien der Fotoinstallation „Schlafende Zöllner“ von Mane Hellenthal und Ulrich Behr zu sehen.

Die Installation entstand anlässlich des Kulturprogramms „Luxemburg und Großregion“, Kulturhauptstadt Europas 2007 und zeigte schlafende Zöllner in den sechs Fenstern des Grenzhauses Grosbliederstroff, dem Grenzübergang zwischen Sarreguemines und Saarbrücken. Durch diese Intervention im öffentlichen Raum wurde die Grenze temporär von Mai bis September 2007 wieder wahrnehmbar.

Mane Hellenthal und Ulrich Behr verfassten damals einen Text, in dem sie ihre Gedanken zu dieser Arbeit festhielten. In ihren Überlegungen kristallisierte sich der Gedanke heraus, dass die schlafenden Zöllner als Synonym für die schlafenden Grenzen auch wieder erwachen könnten. Ihre Mutmaßungen über die Ursachen erwachender Grenzen lauteten damals: „Sind es Flüchtlingsströme, die in das reiche Europa wollen, ist es die Angst vor globalen Epidemien oder vor Terrorattacken? Sind es Kräfte, die einem europäischen Gedanken ablehnend gegenüberstehen?“

Diese Gedanken formulierten Hellenthal und Behr lange vor der Coronavirus-Pandemie, der dramatischen Zunahme der Flüchtlingsmigration oder auch der Gründung der AFD und dem damit verbundenen Wiedererstarken eines rechten Populismus mit einer Sehnsucht nach einem starken Nationalstaat.

Von der heutigen Warte heraus betrachtet haben sich viele dieser Befürchtungen zugespitzt oder sogar erfüllt. Die Grenzen wurden anlässlich der Corona-Pandemie temporär geschlossen und an den Grenzübergängen wurde wieder kontrolliert.

Veranstaltungsflyer

Begleittext

Sie können den originalen Katalogtext der damaligen Ausstellung hier als „Zeitdokument“ einsehen:

Am Grenzübergang Sarreguemines (F) – Saarbrücken (D) sind im Sommer 2007 in den sechs Fenstern des Grenzhauses Grosbliederstroff Fotografien angebracht. Die abgebildeten Zöllner, jeweils drei in französischer und drei in deutscher Uniform, scheinen über die Tischplatten gebeugt, eingeschlafen zu sein. Die Fotos sind abends und nachts von hinten beleuchtet, so dass bei Dunkelheit die Wirkung einer erleuchteten Amtstube entsteht. Wer die Fotoinstallation passiert, dem wird die Grenze wieder gegenwärtig.

Die EU-Binnengrenzen fallen heute lediglich durch die ehemaligen Grenzgebäude und Geldwechselstuben mit ihrer typischen Architektur auf. Ein Passant wird an die Zeiten erinnert, als die Grenzhäuser noch besetzt waren und der Übergang von einem Land ins andere noch eine offizielle, gelegentlich sogar amtliche Angelegenheit war. Ein- und Ausreise waren eine Art Ritual, mit dem Charakter einer offiziellen Begrüßung oder Verabschiedung, einer Kontrolle und Legitimierung, ein Ort, an dem man sich ausweisen und seine Identität preisgeben musste.

Viele Grenzhäuser und Wechselstuben sind bereits abgerissen. Andere Grenzgebäude, sind heute Sitz von Geschäften, Restaurants, Büros oder Wohnhäusern. Oft kokettieren diese Gebäude in ihrer Namensgebung mit der einstigen Nutzung (z.B. „Grenz-Outlet“), die sie zu einem Denkmal für die Zeiten vor dem Schengenabkommen machen. Die Grenzgebäude befinden sich heute in einer zeitlich nicht klar definierten Dimension. Wer den Grenzübertritt noch aus der Zeit vor 1995, der Gründung des Schengenraumes kennt, hat eine andere Realität als die heutige erlebt. Mancher erinnert sich gerne an diese Grenzpassagen, die oft mit dem Beginn von Urlaub und Abenteuer verbunden waren. Ein Anderer mag sich an die Durchsuchung seines Wagens oder das Verzollen von Einkäufen oder Gastgeschenken erinnern. Zahlreiche Schmugglergeschichten begleiteten die Bewohner der Grenzgebiete durch die Jahrhunderte.

Das Grenzgebäude von Grosbliederstroff wird auf poetische Weise durch das Bild des schlafenden Zöllners wiederbelebt. Ein letztes Mal reaktiviert somit dieses Gebäude anhand der Fotoinstallation eine tief im kollektiven Gedächtnis verwurzelte Erfahrung und erinnert den Betrachter daran, dass die Grenze sehr wohl noch existiert, dass die Staatsgrenze derzeit lediglich „schläft“. Die globalisierte Welt verändert sich in raschem Tempo. Konflikte entstehen und verschwinden – manchmal von heute auf morgen. Fremdes wird vertraut,... und kommt bedrohlich nahe. Grenzen scheinen zu verschwinden – werden wieder aktiviert

Der Zöllner schläft seinen „100-jährigen Schlaf“, bis zu der nächsten Veränderung. Wir wissen nicht genau was den Zöllner wecken wird: Sind es Flüchtlingsströme, die in das reiche Europa wollen, ist es die Angst vor globalen Epidemien oder vor Terrorattacken? Sind es Kräfte, die einem europäischen Gedanken ablehnend gegenüberstehen? Die Präsenz oder das Wegfallen von Grenzkontrollen ist somit Spiegelbild des Vertrauens der Nachbarvölker zueinander.

Die Intensität von Grenzüberwachung dient in gewisser Hinsicht auch als ein Indikator für den globalen Stand der Verwirklichung der Ideale von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“, der Solidarität der Gesellschaften dieses Planeten mit einander. Die offenen Grenzen innerhalb des Schengenraumes sind keine als selbstverständlich zu betrachtende Errungenschaft des europäischen Gedankens, vielmehr ist der ideelle und praktische Wert dieser Öffnung eine zu bewahrende, glückliche Folge der wechselvollen europäischen Geschichte. Die Zöllner, in friedlichen Dornröschenschlaf gefallen, mahnen den Vorübergehenden und erinnern ihn an die Vergänglichkeit des Augenblickes. Sie stehen als metaphorisches Bild für den momentanen Zustand einer Binnengrenze im heutigen Europa.

Mane Hellenthal & Ulrich Behr, 2007